Interview mit Dr. Charlotte Cordes vom Deutschen Institut für Provokative Therapie (DPI)

Ich freue mich, Dr. Charlotte Cordes als meinen ersten Gast zu einem Interview begrüßen zu dürfen. Da der Provokative Ansatz sehr komplex ist, habe ich Ihnen ausführlich in diesem Artikel die Grundprinzipien aufgelistet, die es zu beachten gilt.

Ganz unten finden Sie wie gewohnt das Video zum Beitrag.
Viel Spaß beim Schmökern!

Einleitung

Der Provokative Ansatz richtet sich an Fachpersonen aus Therapie, Beratung, Coaching und anderen Settings.

Er gilt als wertschätzend. Dies soll sich in der Haltung der Fachperson widerspiegeln: Dem Patienten/der Patientin wird zugetraut, dass er oder sie eine Lösung für das Problem bereits in sich trägt.

Dadurch werden die PatientInnen nicht länger als bedauernswerte Opfer behandelt. Stattdessen forciert und fördert die provokative Therapie die Selbstverantwortung wie keine andere. [1]

 

Ursprung

Der Provokative Ansatz fand seinen Ursprung in den USA. Frank Farrelly war ein Sozialarbeiter, der mit der Ausbildung in klientenzentrierter Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers seine Therapielaufbahn begann. Dabei begleitete er in einem Forschungsprojekt am Mendota Mental Health Hospital in Wisconsin schizophrene PatientInnen. [2]

Farrelly wurde nach einer Weile mit den schwersten Fällen, den sogenannten „austherapierten Patienten“, betraut. Das Erstaunliche: er erzielte auf einzigartige Weise Erfolge.

Im Laufe seiner Praxis arbeitete er mit schizophrenen, drogenabhängigen und schwer depressiven Patienten ebenso wie mit kriminellen „Psychopathen“, wie er es selbst nannte.[3]

Sein Ansatz gründete sich aus der Kognitiven Therapie. Über die Jahre entwickelte er daraus mit verschiedenen Kollegen gemeinsam gezielte Interventionen, derer sich der Provokative Ansatz bedient. Ein zentraler Aspekt ist die schonungslose Ehrlichkeit bei Aufrechterhaltung des „guten Drahtes“ zur Patientin/zum Patienten.

Der humorvolle Umgang mit den Leiden und Verirrungen des Klientel impliziert, dass alles schließlich ein gutes Ende nehmen wird. [4]

Dabei war Frank Farrelly stets klar, dass gleichgültig „wie schwer der Patient gestört war“, er sich verändern konnte. [5]

In seiner Arbeit kam Farrelly zu dem Schluss, „dass „psychisch Kranke“ überhaupt nicht den „Kontakt zur Realität verloren“ hatten, sondern sehr genau wussten, was sie in den meisten Fällen taten. [6]

Seine Therapie glich zu Beginn einem ungestümen Experimentieren, bei dem er auch immer wieder Fehler machte. Er lernte, über diese Fehler zu lachen und sie nicht als Katastrophen zu interpretieren.[7]

Auf diese Fähigkeit wird heutzutage auch in der Ausbildung der Therapeutinnen wertgelegt. Vertieft wird dies durch Übungen aus dem Improvisations Theater. Auf diese Weise signalisiert die Therapeutin, dass nicht nur mit den Anliegen der Patienten, sondern auch mit der eignen Herangehensweise locker und humorvoll umgegangen wird. Es entsteht eine gelöste Atmosphäre.

 

Werte

Forschungen haben ergeben, dass der nonverbale Teil einer Unterhaltung etwa 80% beträgt. Der Verbale also lediglich 20%. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Haltung des Therapeuten gegenüber dem Patienten das Entscheidende ist und nicht, was er zu ihm sagt.

Dessen machte sich Farrelly zu Nutze: Auf der nonverbalen Ebene signalisierte er seinen PatientInnen: Du bist ok, ich mag dich. Verbal äußerte er mitunter die schlimmsten Beleidigungen, welche man sich vorstellen kann.

 

Aber weshalb funktionierte das?

Zum einen, weil sich seine KlientInnen von ihm akzeptiert fühlten, eben trotz ihrer Schwächen. Zum anderen, weil sich zeigte, dass keine Äußerung so brutal sein kann, wie das Urteil, das Menschen über sich selbst fällen.

Diese Schonungslosigkeit ist ein wichtiger Teil der Therapie. Es herrscht von Anfang an Transparenz. Farrelly sprach aus, was er dachte. Jedoch nicht um zu verurteilen, sondern um möglichst rasch an die Punkte zu gelangen, bei denen die KlientInnen feststeckten und nicht weiterkamen.

 

 

Beginn in Deutschland

Nach Deutschland fand der Ansatz durch Dr. E. Noni Höfner, die heute gemeinsam mit ihrer Tocher Dr. Charlotte Cortes das Deutsche Institut für Provokative Therapie leitet. Sie war eine gute Freundin von Frank Farrelly, und die beiden haben neben der gemeinsamen Arbeit auch einige Bücher veröffentlicht.

Der von Höfner entwickelte Provokative Stil hat das Ziel, die eigenen Fixierungen auf bestimmte Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen zu durchbrechen, damit wir Muster, welche wir als störend erlebt haben ablegen und etwas Neues etablieren können.[8]

Das Institut bildet auch zertifizierte Seminare an, da gerade beim Provokativem Ansatz die Gefahr besteht, dass die Interventionen nicht konstruktiv sondern verletzend erfolgen. Die wohlwollende, unterstützende Grundhaltung muss eingeübt und reflektiert werden, damit gesichert ist, dass dem Klientel kein Schaden entsteht.[9]

 

 

Die Grundhaltung: LKW

Die Grundhaltung im Provokativen Ansatz kann gut anhand des Schaubildes erklärt werden:

Das liebevolle Karikieren der Weltsicht der Klientin/des Klienten ist das wesentliche Element des Provokativen Ansatzes. Anhand des guten Drahtes (nonverbale Kommunikation), darf die Fachperson sich die Offenheit herausnehmen, ein Muster der Patientin/des Patienten anzusprechen, zu überzeichnen und so auf humorvolle Art den Widerstand im Gegenüber zu erzeugen. Wichtig ist die eigene Motivation der PatientInnen, etwas zu verändern.

Entscheidend dafür ist, dass die Fachperson kein (von ihr) festgelegtes Ziel anstrebt. Das würde nicht funktionieren, da es nicht mehr wertfrei, sondern mit manipulativer Absicht geschehen würde.

[10]

Wann ist es sinnvoll, provokativ zu intervenieren?

Wenn der Klient sich selbst und andere schädigt, z.B. durch

·       destruktive Gedanken

·       destruktive Gefühle

·       destruktive Verhaltensweisen

·       Nichtbeachtung der Leuchtturmprinzipien (menschliche Würde anderer anerkennen, Fairness/Aufrichtigkeit beim Umgang mit anderen,  Pflicht zur Weiterentwicklung/geistigem Wachstum)

Wenn der Klient einengende Kommunikation betreibt, z.B.

·       Definition der Stimmung / des emotionalen Klimas

·       Double-bind-Kommunikation

·       Das Auslösen von Antreibern: (“Ich bin nur dann akzeptabel, wenn …”)

·       Das Auslösen von sozial anerzogenen Reaktionen

·       Seinen Status bzw. den Anschein von Überlegenheit nutzen

Ziel: Diese negativen Muster Bewusstmachen und gezielt Durchkreuzen

·       Wie bewusst werde ich eingeengt?

o   absichtsvoll (bewusst) à durchkreuzen

o   absichtslos (unbewusst) à bewusst machen

Wann sollte nicht provoziert werden?

·       Meine innere Einstellung zum Patient/Patientin ist negativ

o   Aggressionen

o   Ablehnung

o   Gleichgültigkeit

à damit würde man dem Gegenüber schaden

·       Das Problem ist zu weit weg – Therapeutin kann es nicht verstehen/eingrenzen

·       Das Problem ist zu nah – Therapeutin kann es nicht relativieren [11]

 

Mechanismen

Im unten stehen Schaubild sehen wir nochmal auf den Punkt gebracht, welche Mechanismen in der Provokativen Intervention wirken und welche Voraussetzungen hierzu nötig sind:

Das Menschenbild hinter dem Provokativen Ansatz ist gekennzeichnet durch „zutrauen“. Ich traue dem Patienten/der Patientin zu, dass sie mündig ist und die Stärke besitzt, ihre Situation zu verändern. Vor allem aber auch, um die Interventionen „auszuhalten“.

Damit in der Therapie ein Nutzen und kein Schaden entsteht, ist der „gute Draht“ zwischen Therapeut und Patient wichtig. Klaus Grawe formulierte 5 zentrale Wirkfaktoren in der Psychotherapie. Einer davon war die Therapeutische Beziehung, damit ist der gute Draht gemeint. Denn nur, wenn sich der Patient vom Therapeuten angenommen, akzeptiert und verstanden fühlt, kann eine Allianz, ein Arbeitsbündnis entstehen, was tragend für den Erfolg einer Therapie ist. [12] Dazu gehört auch, dass die Therapeutin nicht verurteilt oder mit unbeweglicher Miene vor der Patientin sitzt. Denn ein authentisches Gegenüber verstärkt das gute Arbeitsbündnis. Diese tragfähige professionelle Beziehung ist die Voraussetzung, dass der Patient/die Patientin den Prozess nicht vorzeitig abbricht.

So kann der provokative Therapeut auch immer wieder die Richtung in der Sitzung wechseln, den Klienten mal auf diese, mal auf jene Seite ziehen, komplett verwirren und dadurch eine Handlung in eine ganz neue Richtung ermöglichen.

Auf diese Art kann es der Patientin leichter fallen, neue Handlungsmöglichkeiten überhaupt wahrzunehmen und sich dann neu zu entscheiden, wie es weitergehen soll.

[13]

Fazit

Der Provokative Ansatz ist sehr wirkungsvoll und kann in vielen Feldern eingesetzt werden. Gleichzeitig besteht ein großes Risiko, durch unachtsames oder unaufmerksames Vorgehen die PatientInnen zu verletzen. Aus dem Grund ist es zwingend nötig, den Provokativen Ansatz durch mehrjähriges Erlernen, Einüben, Reflektieren und durch Selbsterfahrungen zu verinnerlichen. Gerade die liebevolle Grundhaltung (LKW) spielt in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle.

Gleichzeitig bedarf es Übung, um sich in erster Linie so schonungslos und punktgenau den destruktiven Themen der PatientInnen zu nähern sowie Mut das Wahrgenommene karikativ anzusprechen bzw. zu überziehen. Doch nur wer diesen Mut aufbringt, kann auch diese eingefahrenen Muster durchdringen.

Wichtig ist sich als Therapeut/Therapeutin bewusst zu machen: den PatientInnen kann man etwas zutrauen. Sie tragen die Lösung ihrer Probleme bereits in sich und sie haben die Fähigkeit, sich zu verändern.

Ich selbst absolviere seit einigen Jahren die Weiterbildung im Provokativen Ansatz und setze ihn auch in meiner Beratungsarbeit ein. Dadurch gelingt es mir immer besser, Dinge auf den Punkt zu bringen. Es hat eine befreiende Komponente, wenn man „blind in den Busch schießen“ darf, und anschließend abwartet, „ob ein Hase heraus hoppelt“, also ob ich mit meiner Beobachtung ins Schwarze treffe und beim Muster meiner Klientin angelangt bin.

Gleichzeitig arbeite ich immer noch an mir, damit ich mich noch öfter traue, noch stärker zu überzeichnen. Damit riskiere ich auch, dass der Klient/die Klientin wenig schmeichelhaft von mir denkt. Doch das ist nicht entscheidend. Ich suche keinen „neuen Freund fürs Leben“. Viel wichtiger ist: Wovon profitiert mein Klient/meine Klientin am Meisten. Und um das zu erreichen gehört es auch dazu, die eigene Komfortzone als TherapeutIn zu erweitern.

 

 

Quellenverzeichnis

„Provokative Therapie“, Frank Farrelly, Jeffrey M. Brandsma, Springer Verlag Berlin Heidelberg 1986, Nachdruck 2005

„Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind“, E. Noni Höfner, 2. Auflage, 2012, Carl-Auer-Systeme Verlag

Unterrichtsmaterialien vom D.I.P. aus dem Seminar PROSA I

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Frank_Farrelly

https://provokativ.com/zertifikat/

https://provokativ.com/provokativeransatz/

https://provokativ.com/die-waffen-des-wahnsinns/

https://esther-vetsch.ch/wirkfaktoren-psychotherapie/

 

Bildnachweis

Schaubilder aus den D.I.P. Unterlagen von PROSA I


[1] (Farrelly & Brandsma, 2005, S. V)

[2] (https://de.wikipedia.org/wiki/Frank_Farrelly)

[3] (https://de.wikipedia.org/wiki/Frank_Farrelly)

[4] (Farrelly & Brandsma, 2005, S. Vl)

[5] (Farrelly & Brandsma, 2005, S. 11)

[6] (Farrelly & Brandsma, 2005, S. 14)

[7] (Farrelly & Brandsma, 2005, S. 16)

[8] (Höfner, 2012 S. 11)

[9] (https://provokativ.com/zertifikat/)

[10] (Schaubild aus den D.I.P. Unterlagen)

[11] (Input aus den D.I.P. Unterlagen von PROSA I)

[13] (Schaubild aus den D.I.P. Unterlagen von PROSA I)

Ihre Christina Benner